„Schulen der Demokratie“: Söhnke Vosgerau über Beteiligung im Sport

18.07.2023

Vier Kinder in Sportkleidung, die sich mit den Händen auf einer Sprintstrecke abstützen

© Shutterstock/Sergey Novikov

Söhnke Vosgerau ist Leiter der Bildungsstätte der Sportjugend Berlin. In diesem Interview erklärt er, auf welchen verschiedenen Ebenen Kinder- und Jugendbeteiligung im Sport wirkt und wie gute Beteiligung gelingen kann.

Welche Chancen liegen in der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im organisierten Kinder- und Jugendsport?

Vorab soll festgehalten werden: Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an für sie relevanten Entscheidungen ist ein fundamentales Recht, das u. a. in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben wurde und sich in vielen anderen Gesetzen widerspiegelt. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist daher ein Grundrecht – und nicht von der Lust und Laune von Erwachsenen abhängig.

Darüber hinaus ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Sport ein Schlüssel zu Bildung, Engagement und gelebter Demokratie. Beteiligung als Praxis wirkt also auf individueller, sozialer und gesellschaftlicher Ebene.

1. Die Beteiligung stärkt die Persönlichkeitsentwicklung und die demokratischen Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen

Das zentrale Anliegen von Sportvereinen und -verbänden ist es, Sport und Bewegung zu fördern. Dennoch sind Sportvereine mehr als Sport: Sie erfüllen wichtige soziale Funktionen für ihre Mitglieder, für ihr Dorf oder Stadtviertel. Hier begegnen sich unterschiedliche Menschen und tauschen sich aus, planen gemeinsame Aktivitäten, feiern Feste oder verarbeiten Niederlagen, streiten sich und finden Kompromisse. Ob und wie sich Kinder und Jugendliche dabei mit ihren besonderen Bedürfnissen, ihren Interessen und Anliegen einbringen können, ist relevant für ihre persönliche Entwicklung. Der Sport im Verein kann dazu beitragen, sie zu selbst- und gemeinschaftsbewussten Menschen zu machen.

Natürlich gibt es auch andere Orte, wo junge Menschen zusammenkommen. Sport ist jedoch besonders niederschwellig, hier treffen sich Kinder und Jugendliche aller gesellschaftlichen Milieus. Im Sport erreichen wir auch Kinder und Jugendliche, die in vielen anderen Bereichen nicht aktiv oder engagiert sind.

2. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen fördert das freiwillige Engagement in Vereinen und damit den Grundpfeiler des organisierten Sports in Deutschland

Der organisierte Sport lebt vom freiwilligen Engagement – und viele Menschen leben für ihr Engagement im Verein. Ohne diese Basis wäre der organisierte Sport in Deutschland gar nicht möglich.

Sportvereine sind auch für Kinder und Jugendliche Orte, an denen sie sich niederschwellig engagieren können. Engagement kann hier früh geübt und gelebt werden. Neben der individuellen Persönlichkeitsentwicklung stärkt die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen also auch die Weiterentwicklung einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Beteiligung ist ein Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit des organisierten Sports.

3. Beteiligung in Sportvereinen stärkt die Demokratie

Der organisierte Sport in Deutschland ist nicht nur gemeinnützig, sondern auch demokratisch in Vereinen und Verbänden organisiert. Diese haben Strukturen, die demokratische Verhaltensweisen ermöglichen und von ihren Mitgliedern wahrgenommen werden. Während in der Schule eher theoretisches Wissen vermittelt wird, bietet der Sportverein gute Möglichkeiten, Demokratie zu erproben und die Wirkungen ganz praktisch zu erleben. Vereine werden deshalb in der Wissenschaft oft als „Schulen der Demokratie“ (für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Ältere) gesehen.

Welche Beteiligungsmöglichkeiten existieren im Sport?

Beteiligung ist zunächst ein Sammelbegriff – in der Praxis können damit sehr unterschiedliche Formen und Ansätze gemeint sein. Synonym wird oft von Partizipation oder dem Begriffspaar Teilnahme und Teilhabe gesprochen.

Teilnahme im Sport bedeutet z. B. im Training dabei zu sein, aber nicht über den Trainingsablauf mitentscheiden zu können. Oder im Team zu stehen, während die Übungsleiter:in die Aufstellung bestimmt. Teilnehmen bedeutet mitzumachen, sich aber nicht anderweitig einzubringen. Die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen am Sport können wir daher als Voraussetzung verstehen, um von den vielfältigen Chancen durch Beteiligung profitieren zu können.

Verschiedene Modelle der Beteiligung

Um Beteiligungsformen zu differenzieren, wird oftmals ein Stufenmodell verwendet. Dieses Stufenmodell (von dem es einige Varianten gibt), hilft dabei, unterschiedliche Formen von Beteiligung zu unterscheiden und zu bewerten. Es stellt eine Skala dar, von der absoluten Fremdbestimmung und Alibi-Teilhabe, über Mitwirkung und Mitbestimmung zu Selbstbestimmung und Autonomie. Wir sollten aber das Stufenmodell nicht missverstehen. Es ist nicht so, dass wir erst die eine Stufe nehmen müssen, um zur nächsten zu gelangen.

Um die unterschiedlichen Dimensionen demokratischer Beteiligung besser verstehen zu können, haben Wissenschaftler:innen noch ein anderes Modell vorgeschlagen. Es besteht aus den drei Dimensionen „Mitsprache und Aushandlung“, „Mitbestimmung und Mitentscheidung“ sowie „Mitgestaltung und Engagement“.

Mitsprache und Aushandlung: Die soziale Beteiligung

Soziale Beteiligung findet im Vereinsalltag oder in der Sportpraxis statt. Wenn wir Beteiligung im eigenen Verein kritisch reflektieren und weiterentwickeln wollen, können wir uns z. B. diese Fragen stellen: Wie gestalten Kinder und Jugendliche ihr Training mit? Welche Regeln geben sie sich selbst für das Miteinander? Es geht aber auch darum, wie Diskussionen oder Debatten geführt werden. Wie offen sind Erwachsene für die Anliegen von Kindern und Jugendlichen?

Mitbestimmung und Mitentscheidung: Die politische Beteiligung

Hier geht es u. a. um die institutionalisierten Möglichkeiten für Mitbestimmung im Verein, zum Beispiel in der Mitgliederversammlung, in der Jugendvertretung, in einem Ausschuss oder einer Arbeitsgruppe.

Fragen, die sich dabei stellen können, sind beispielsweise: Wie stellen wir Informationen und Wissen für Kinder und Jugendliche altersangemessen bereit? Wie ermöglichen wir die Artikulation der Gruppeninteressen von Kindern und Jugendlichen? Wer hat Stimmrecht?

Mitgestaltung und Engagement: Aktives Handeln

Hier geht es um die vielfältigen Formen von aktivem Handeln, Engagement und der Übernahme von Verantwortung im Verein, in der Übungsleitung, in Projekten oder anderen Aufgaben. Wie gewinnen und halten wir junge Engagierte? Wie entwickeln wir unsere Engagementkultur im Verein weiter? Die Deutsche Sportjugend hat dazu das Frankfurter Modell der Engagementförderung (PDF-Dokument) entwickelt, das Vereinen dabei helfen kann, einen systematischen Ansatz für die Engagementförderung zu finden.

Diese drei Dimensionen demokratischer Beteiligung im Sportverein sind miteinander verbunden oder bedingen sich gegenseitig.

Fazit: Das Thema Beteiligung ist komplex. Stark vereinfacht können wir überall dort von Beteiligung sprechen, wo Angebote nicht allein für Kinder und Jugendliche stattfinden, sondern mit ihnen oder eigenständig durch sie geplant und umgesetzt werden.

Wie kann Beteiligung im Sport gefördert werden?

Um Beteiligung im Sport zu fördern, sollten wir die Voraussetzungen prüfen und überlegen, was verändert werden kann.

Programme partizipativ gestalten

Es gibt die strukturellen Voraussetzungen wie Satzungen, Ordnungen, Programme oder Leitbilder, die auch Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen definieren, ermöglichen oder limitieren. Bei der Gestaltung von Satzungen und Ordnungen gibt es vielfältige Möglichkeiten, um Kinder- und Jugendperspektiven zu berücksichtigen. Auch die Entwicklung von Leitbildern und Programmen kann partizipativ gestaltet werden. Am Anfang könnten die Fragen stehen: „Wie stellen sich Kinder und Jugendliche eigentlich ihren Verein der Zukunft vor?“, „Was ist ihnen besonders wichtig?“ und „Was möchten sie verändern?“. 

Kindern und Jugendlichen altersgerechte Beteiligung ermöglichen

Ein zweiter Aspekt sind die Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen, die ihren jeweiligen altersmäßigen, entwicklungspsychologischen Stand widerspiegeln. Gegen Beteiligung wird oftmals das Argument der fehlenden Reife und Mündigkeit angeführt. Und natürlich kann sich eine 16-Jährige anders einbringen als ein 7-Jähriger. Dies gilt es bei der Gestaltung von Beteiligungsprozessen zu berücksichtigen.

Kinder und Jugendliche benötigen dazu altersgerechte Informationen, Orte und Gelegenheiten, an denen sie sich einbringen können. Diese müssen zumeist von Älteren initiiert und gestaltet werden. Aber Kinder und Jugendliche bringen auch Kompetenzen mit, die Ältere manchmal nicht haben. Warum also nicht einmal die Verantwortung für die Social-Media-Kanäle des Vereins digital affinen jungen Menschen übertragen?

Haltungen der Erwachsenen reflektieren und Kompetenzen stärken

Die Erwachsenen im Verein sind diejenigen, die Beteiligungsmöglichkeiten und Orte in der Sportpraxis gestalten: im Training bei Übungen und Spielen, beim Auf- und Abbau, in Pausen, in Gesprächen, Spielanalysen oder bei der Lösung von Konflikten. Wie offen und sensibel sie für die Anliegen von Kindern und Jugendlichen sind und wie es ihnen gelingt, Kommunikation und Miteinander zu gestalten, ist entscheidend für die Beteiligungskultur im Verein. Wer Beteiligung im Verein fördern möchte, sollte Haltungen reflektieren und Beteiligungskompetenzen von Trainer:innen und Übungsleiter:innen stärken. Hierzu bietet sich die Entwicklung von besonderen Qualifizierungsangeboten an, um pädagogisch-didaktische Fähigkeiten auszubauen.

Weiterführendes Material

Die konkretesten Anregungen für die Gestaltung von Kinder- und Jugendbeteiligung im Sport kommen von der Deutschen Sportjugend (dsj). Folgende drei Publikationen sind besonders empfehlenswert:

Gelingende demokratische Partizipation in der Sportpraxis (PDF-Dokument)

Der vielschichtige Partizipationsbegriff (PDF-Dokument)

Das Frankfurter Modell zur Engagementförderung (PDF-Dokument)

 

Die SINUS-Jugendstudie 2020 (PDF-Dokument) gibt Auskunft darüber, wie Jugendliche ticken und welche Bedeutung der Sport für sie hat (ab S. 339)

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© DKJS / Andi Weiland

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