Kinder und Jugendliche in Risikolagen beteiligen

26.06.2023

Ein Mädchen und ein Junge mit Down-Syndrom lachen

© Shutterstock/Kaganovich Lena

„Beteiligung schließt alle jungen Menschen ein“. So lautet einer der Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung. Demnach sollen Angebote zur Beteiligung leicht zugänglich und vielfältig sein: „Unterschiedliche Bedürfnisse je nach Alter, Geschlecht, Behinderung bzw. Beeinträchtigung, sozialer, kultureller oder ethnischer Herkunft sowie Bildungsstand werden berücksichtigt und vorhandene Barrieren abgebaut. Es wird sichergestellt, dass alle Kinder und Jugendlichen, die sich beteiligen wollen, auch die Möglichkeit hierfür erhalten. Es bedarf entsprechender inklusiver Zugänge und Ansprache“ (BMFSFJ 2022, S. 34).

Laut aktuellen Studien haben Kinder und Jugendliche in Risikolagen jedoch Schwierigkeiten, sich zu beteiligen. So stellen sich z. B. Jugendliche in finanziell prekären Lagen die Frage, ob sie es sich leisten können, Zeit in Engagement und Beteiligung zu investieren (vgl. Hurrelmann/Schnetzer 2022). 

Insgesamt erfahren sich benachteiligte Kinder und Jugendliche als Objekte und nicht als Subjekte politischen Handelns: „Zu den sozial prekären Verhältnissen, in denen sie leben, der Stigmatisierung als Versager und Problemjugendliche addiert sich ein Gefühl der Machtlosigkeit. Die Jugendlichen konstatieren, kein Wort, keine Stimme zu haben, sie fühlen sich ohnmächtig“ (Calmbach/Borgstedt 2011).

Kinder und Jugendliche in Risikolagen im Zukunftspaket 

Im Zukunftspaket sollen insbesondere Projekte von Kindern und Jugendlichen in Risikolagen gefördert werden. Auswertungen der ersten zwei Förderrunden im Förderfeld 1b (Trägerprojekte) zeigen, dass dieses Ziel voraussichtlich erreicht wird: Rund 50 Prozent der Teilnehmer:innen befinden sich laut Schätzungen der Träger in einer Risikolage.

Doch wann sprechen wir von einer Risikolage? Nach der Definition im Zukunftspaket ist dies der Fall, wenn eines der folgenden Merkmale auf junge Menschen zutrifft: 

  • Kein Elternteil ist erwerbstätig. 
  • Beide Elternteile sind gering qualifiziert (weniger als ISCED-3). 
  • Das Haushaltseinkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze. 
  • Sie sind in staatlicher Obhut aufgewachsen oder darin befindlich. 
  • Sie weisen diagnostizierte Beeinträchtigungen ihrer physischen oder psychischen Gesundheit auf, die sie längerfristig in Alltag, Schule, Ausbildung oder Arbeit einschränken. 
  • Es besteht staatlich dokumentierter sozialpädagogischer Interventionsbedarf. 

Diese Definition kann jedoch durchaus kritisch betrachtet werden, denn einige Dimensionen finden hier keine Erwähnung. So werden z. B. Kinder und Jugendliche nicht berücksichtigt, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer ethnischen Herkunft Benachteiligung erfahren.

Partizipation von benachteiligten Kindern und Jugendlichen 

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit bietet ein großes Potenzial, benachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen.

Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Impulsvortrag „Wissen geht raus.kommunal“ –Benachteiligte Zielgruppen von Prof. Dr. (i.R.) Benedikt Sturzenhecker. Darin stellt er auch konkrete Beispiele aus der Praxis vor, die gelungene Kinder- und Jugendbeteiligung veranschaulichen. Siehe dazu auch Sturzenheckers Publikationen zur GEBe-Methode: Methode zur Förderung gesellschaftlich demokratischen Engagements von benachteiligten Kindern und Jugendlichen (Sturzenhecker 2015; Sturzenhecker/Schwerthelm 2015; Sturzenhecker/Glaw/Schwerthelm 2020).

Den Begriff der „Risikolage“ sieht Prof. Dr. Sturzenhecker allerdings als problematisch an: Kinder und Jugendliche, die sich in einer sogenannten Risikolage befinden, würden durch diese Zuschreibung schnell stigmatisiert. Denn nur weil junge Menschen in Verhältnissen aufwachsen, die als prekär gelten, bedeute das nicht, dass sie auch einem Risiko ausgesetzt sind. 

Stattdessen arbeitet Prof. Dr. Sturzenhecker mit dem Ausdruck „benachteiligte“ Kinder und Jugendliche, den er wiederum ebenfalls kritisch hinterfragt: Die Bezeichnung sei pädagogisch und kommunalpolitisch erstens zu abstrakt. Man müsste jeweils in der Einrichtung und vor Ort in Kommunikation mit den Betroffenen herausfinden, worin denn ihre spezifische Benachteiligung – auch aus ihrer Selbstsicht – denn bestünde. Zweitens gehe es bei dem Begriff oft nicht um eine Skandalisierung von Benachteiligung gegenüber Menschen, sondern darum, bestimmten Gruppen angebliche Defizite zuzuschreiben. Damit beschränkt man ihre politische Partizipation noch mehr. Dennoch sei die Bezeichnung unumgänglich, um diese Gruppierungen wissenschaftlich generalisierend und politisch problematisierend benennen zu können.

Orientierung an Themen von Kindern und Jugendlichen

Will man junge Menschen beteiligen, muss man bei ihren lebensweltlichen Themen und Interessen ansetzen. Es gelten deren Relevanzen und nicht die Themen, die sich erwachsene Akteur:innen ausgedacht haben oder die sie für wichtig halten, erklärt Prof. Dr. Sturzenhecker.

Dies verdeutlicht auch das folgende Forschungsergebnis: „Geht es jedoch darum, in der eigenen Lebenswelt etwas zu verändern, Ungerechtigkeiten aufzudecken und diesen aktiv zu begegnen, erfährt das Bild der Politikverdrossenheit Brüche. Sobald die Jugendlichen ihre eigenen Stärken einbringen können (Sensibilität für Missachtung und Ungerechtigkeit, Beobachtung der Umwelt, Lebensbewältigungsstrategien, optimalen Umgang mit knappen Ressourcen, Konfliktbereitschaft und Zusammenhalt), lassen sie sich sehr wohl konzentriert und eifrig auf politische Themen ein, aber eben nur auf solche, die ihnen interessant, bearbeitungswürdig und -bedürftig erscheinen – und das sind nicht wenige Themen“ (Calmbach/Borgstedt 2011).

Gesellschaftlich relevante Themen, die benachteiligte Jugendliche aufgrund ihrer lebensweltlichen Erfahrungen problematisieren, lauten z. B.:

  • (Un-)gerechtigkeit
  • Gewalt (die sie in ihrem Alltag auch untereinander erfahren, jedoch nicht ohne ein kritisches Bewusstsein darüber) 
  • Zugang zum Arbeitsmarkt (der für sie prekär ist) 
  • Restriktion und Diskriminierung (als Erfahrung ausgeschlossen und kontrolliert zu werden)
  • Drogen (deren Gebrauch sie auch problematisieren, wenn sie sie selbst nutzen)
  • Fragen der staatsbürgerlichen Zugehörigkeit (die besonders für Jugendliche mit Migrationshintergrund ein kontinuierliches Problem darstellen)

Dabei ist zu beachten, dass es sich hierbei um das Ergebnis dieser speziellen Untersuchung (Calmbach/Borgstedt 2011) handelt. Im Einzelfall können benachteiligte Jugendliche andere Themen haben, die sie beschäftigen.

Partizipation muss inklusiv sein

Wie Prof. Dr. Sturzenhecker in seinem Vortrag erläutert, beginnt Demokratie damit, dass Mitglieder der Entscheidungsgemeinschaft öffentlich ihre Themen, Interessen, Konflikte, Vorschläge etc. anderen gegenüber artikulieren. Dabei ist zu beachten, dass Menschen sich in dieser Gesellschaft in vielen unterschiedlichen Teilkulturen sehr unterschiedlich ausdrücken und sich nur beteiligen, wenn ihr Ausdruck auch aufgenommen wird. Also müssen Partizipationsformen inklusiv gestaltet werden, sodass sich alle mit ihren Formen dort einklinken können. 

Kinder und Jugendliche benötigen Resonanzen, also Antworten anderer Betroffener und Beteiligter auf diese Artikulationen, ergänzt Prof. Dr. Sturzenhecker. Erst wenn sie sich an die Öffentlichkeit wenden, wenn sie anderen zeigen, was für sie wichtig ist, und darauf Antworten bekommen, dann entsteht eine öffentlich-demokratische Auseinandersetzung als Basis von Partizipation.

Kontakt mit jungen Menschen aufnehmen

Wer selbst mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen arbeiten will, sollte sein Vorhaben laut Prof. Dr. Sturzenhecker vorher kritisch hinterfragen: 

  • Um was und um wen geht es mir ganz genau? Was meine ich denn genau, was in meiner Kommune, in meinem Stadtteil, in meinem Dorf die „Benachteiligung“ von jungen Menschen kennzeichnet? Nehmen sich die Gemeinten selbst auch als benachteiligt wahr? Denn das muss nicht übereinstimmen.
  • Warum meine ich, die Benachteiligten beteiligen zu wollen/zu sollen? Bin ich der Meinung, dass die Benachteiligten das auch wollen? Will ich die Kinder und Jugendlichen zur Beteiligung ‚motivieren‘(polemisch gefragt: habe ich also imperialistisch-missionarische Absichten)? Oder kann ich mit ihnen ihre eigenen Beteiligungsinteressen entdecken und mich ihren Motiven anschließen?
  • Wer oder was benachteiligt die jungen Menschen konkret vor Ort? Und müssen/können nicht zunächst die Benachteiligungsverhältnisse abgebaut werden? Was könnte ich dafür tun?
  • Wer oder was behindert die demokratische Partizipation der benachteiligten Kinder und Jugendlichen in meinem Ort und wie könnte ich das verbessern? 

Wie entdeckt man Themen, Interessen und Konflikte von benachteiligten Kindern und Jugendlichen?

Um zu erfahren, was junge Menschen in ihrer Lebenswelt bewegt, gibt es nach Prof. Dr. Sturzenhecker zwei Möglichkeiten:

  1. Man beobachtet ihr Handeln – in pädagogischen Einrichtungen oder im Sozialraum – und leitet daraus potenzielle Themen ab, die man dann im Dialog mit den Kindern und Jugendlichen und anderen Betroffenen oder Beteiligten klärt. Das geht am einfachsten in Einrichtungen, in denen sich diese Kinder und Jugendlichen ohnehin schon freiwillig aufhalten und handeln, in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit oder in bestimmten Sportvereinen. In den pädagogischen Organisationen werden viele Themen des Lebens der jungen Menschen in der Kommune erkennbar. 
  2. Man geht zu solchen Hypothesen über mögliche Themen in den direkten Dialog mit den Kindern und Jugendlichen – und klärt, was tatsächlich ihre konkreten Anliegen sind. Man kann sie bitten, einen Einblick in ihr Leben zu gewähren und dabei ergeben sich meistens Themen, die Bezug zum Gemeinwesen haben.

Benachteiligte junge Menschen im Sozialraum aufsuchen

Nachdem man herausgefunden hat, wo Kinder und Jugendliche sich im Sozialraum regelmäßig aufhalten, empfiehlt Prof. Dr. Sturzenhecker, sie an den entsprechenden Orten aufzusuchen, sich vorzustellen, sein Anliegen zu erklären und um ein Gespräch zu bitten.

Dabei eignen sich folgende Fragen:

  • Was macht ihr hier? Was macht ihr hier gerne?
  • Was ist cool daran, was ihr hier macht? Was nicht?
  • Was macht ihr gerne mit wem an anderen Orten? Wo lebt ihr sonst noch wie mit wem? Wie findet ihr das, was ihr so macht?
  • Was interessiert und beschäftigt euch? Was findet ihr cool? Welche Musik hört ihr, was guckt ihr, was spielt ihr? Mit wem tut ihr das (wo)?

Prinzipien einer offenen, kommunikativen Erkundung von Themen und Interessen

Wie Prof. Dr. Sturzenhecker betont, sollte man sich im Gespräch mit Kindern oder Jugendlichen an den Prinzipien einer offenen, kommunikativen Erkundung von Themen und Interessen orientieren. Dazu ist es ratsam, immer wieder an das Thema anzuknüpfen, das der junge Mensch gerade erwähnt hat, indem man das Gesagte bestätigt, aufgreift und versucht noch einmal tiefer zu gehen. Dabei sollte man allerdings nicht nach dem „Warum“ fragen, das Gegenüber also nicht in Rechtfertigungszwänge bringen. Stattdessen sollte man Erzählungen auslösen. 

Auf der anderen Seite brauchen Kinder und Jugendliche aber auch eine Resonanz, führt Prof. Dr. Sturzenhecker fort. Kommunikation als Verständigung, als Aushandlung kommt zustande, indem nicht eine Seite in der mächtigen Fragerolle bleibt, sondern indem man dem Gegenüber antwortet. Dazu braucht es eine Gegenseitigkeit: Man sollte mit dem antworten, was einen selbst in Schwingung versetzt. Dabei gilt es, eine Balance zu halten und nicht zu viel zu erzählen, sondern immer beim Gegenüber zu bleiben.

Entdeckte Themen partizipativ angehen

Wie oben erläutert, beginnt gesellschaftlich-demokratische Beteiligung mit der Artikulation von Betroffenen, die ihre Interessen, Konflikte und Fragen zum Thema der öffentlichen Aushandlung (Diskurs) im Gemeinwesen machen. Werden solche Anliegen mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen entdeckt, gilt es sie zu unterstützen, diese Anliegen auf ihre spezifische Weise vorzubringen. Dabei können im weitesten Sinne Medien (also Mittel) helfen, die die Zielgruppen selbst verwenden. Wenn man damit andere Beteiligte in der Gesellschaft anspricht, sind pädagogische Fachkräfte oft gefordert, zwischen den unterschiedlichen Ausdrucksweisen der Gegenüber zu übersetzen. So dürfen etwa die Sprech- und Handlungsweisen von Erwachsenen (z. B. Nachbarn, Verwaltung oder Kommunalpolitik) die Artikulationsweisen der Kinder und Jugendlichen nicht dominieren – ebenso wie die Kommunikationsstile der jungen Menschen den Älteren übersetzt werden müssen. Dazu gehört auch, für beide Seiten geeignete sozialräumliche Settings zu schaffen, die eine gleichberechtigte Aushandlung fördern. Auch benötigen Streit- und Argumentationsprozesse eine Moderation, die Kommunikationsregeln definiert, den Prozess und die Ergebnisse visualisiert und weiterführende Handlungsaufgaben und -verantwortungen klärt. Stets ist zu prüfen und zu gewähren, was die jungen Menschen an Unterstützung benötigen, um sich so selbstbestimmt und selbstständig wie möglich in öffentliche Debatten und Lösungssuchen mitbestimmend einzubringen. Wer benachteiligte Kinder und Jugendliche so differenzgerecht einbezieht, findet in ihnen engagierte, faire und fähige Partner:innen politisch öffentlicher Aushandlungsprozesse. 

 

Literatur

Calmbach, M./Borgstedt, S. (2011): „Unsichtbares“ Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen. In: Kohl, W./Seibring, A. (Hrsg.) „Unsichtbares“ Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von „bildungsfernen“ Jugendlichen, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 1138, Bonn. 

Schnetzer, S./Hurrelmann, K. (2022): Jugend in Deutschland – Eine Sonderauswertung für das Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit. (PDF-Dokument) Datajockey Verlag, Kempten.

Sturzenhecker, Benedikt/Glaw, Thomas/Schwerthelm, Moritz (2020): Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern – Band 3. Kooperativ in der Kommune demokratisches Engagement von Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Verlag Bertelsmann Stiftung: Gütersloh. 

Sturzenhecker, Benedikt (2015): Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern – Band 1. Konzeptionelle Grundlagen für die Offene Kinder- und Jugendarbeit. Unter Mitarbeit von Moritz Schwerthelm. 4. Auflage 2021. Verlag Bertelsmann Stiftung: Gütersloh. 

Sturzenhecker, Benedikt/Schwerthelm, Moritz (2015): Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern – Band 2. Methodische Anregungen und Praxisbeispiele für die Offene Kinder- und Jugendarbeit. 4. Auflage 2021. Verlag Bertelsmann Stiftung: Gütersloh.

Sturzenhecker, B. (2023): „Wissen geht raus.kommunal“ – Impulsbeitrag: Benachteiligte Zielgruppen.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2022): Mitwirkung mit Wirkung: Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung. Impulse zur Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. (PDF-Dokument)

 

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