Kinder als „Regelungsgegenstand“? Wie steht es im Grundgesetz um Kinder- und Jugendrechte?

23.05.2023

Ein Kreis aus Händen, die sich aneinander festhalten

© Shutterstock/Pajjai Sapwattanapaisarn

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland feierlich verkündet und hat sich bis heute als Fundament der Demokratie bewährt. Doch warum gibt es eigentlich ein Grundgesetz? Unter welchen Voraussetzungen ist es entstanden? Und welche Rolle spielen die Rechte von Kindern und Jugendlichen in der deutschen Gesetzgebung?

Das Grundgesetz in Deutschland ist die Grundlage unserer demokratischen Ordnung und steht im Rang über allen anderen deutschen Rechtsnormen. Doch wie kam es dazu?

Lehren aus der Vergangenheit

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beauftragten die drei westlichen Siegermächte – USA, England und Frankreich – die Politiker:innen Deutschlands damit, eine neue politische Ordnung zu erarbeiten: Diese sollte Demokratie und Grundrechte garantieren sowie einen föderalen Staatsaufbau festlegen und damit die Lehren aus den Fehlern der Weimarer Republik und den Verbrechen des Nazi-Regimes ziehen. 

Die Ministerpräsidenten Deutschlands beriefen daraufhin einen Parlamentarischen Rat ein, der aus 65 Mitgliedern bestand und im September 1948 seine Arbeit aufnahm. Gemein war den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates das Ziel, eine freiheitliche demokratische Grundordnung zu schaffen, in der Freiheit, Gleichheit und Toleranz auf Dauer garantiert sind. 

Nach monatelangen Debatten wurde am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in einer feierlichen Sitzung des Parlamentarischen Rates verkündet. Ursprünglich war es nur als Übergangslösung bis zur Wiedervereinigung konzipiert – der Name sollte den vorläufigen Charakter verdeutlichen. Das Grundgesetz erfüllte aber von Beginn an alle Kriterien, die eine demokratische Verfassung ausmachen. Seit dem Beitritt der damaligen „Deutschen Demokratischen Republik (DDR)“ zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 gilt das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Das Grundgesetz besteht aus einer Eingangsformel, Präambel, den Grundrechten und einem organisatorischen Teil. Die in den Artikeln 1 bis 19 festgelegten Grundrechte sichern die unantastbaren Rechte der Bürger:innen gegenüber dem Staat. Dabei garantiert Artikel 1 die Menschenwürde und unterstreicht die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte, die unter anderem die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichberechtigung sowie Religions- und Pressefreiheit sicherstellen. Das Grundgesetz legt außerdem die Aufgaben und die Verantwortung der staatlichen Organe fest und begrenzt die Macht des Staates durch das Prinzip der Gewaltenteilung.

Das Grundgesetz – Vorbild für andere Staaten

Auch andere Staaten beriefen sich auf das deutsche Grundgesetz: Weltweit diente es als Vorbild für neue Verfassungen vor allem ehemals totalitärer Staaten, in den 1970er-Jahren beispielsweise in Spanien, Portugal und Griechenland, später auch in Südamerika und in Asien. Auch die ehemaligen sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas wie Ungarn und Polen orientierten sich nach 1989 an den wichtigsten Prinzipien des Grundgesetzes: Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung sowie dem Schutz der Menschenwürde und der Grundrechte. Die Verankerung der Menschenwürde schützt die Menschen vor staatlicher Willkür, der sie in Diktaturen häufig ausgesetzt sind.

Kinderrechte bisher nicht im Grundgesetz verankert

Kinder und Jugendliche sind Träger:innen aller Grundrechte und gleichzeitig besonders schutzbedürftig. Sie sind darauf angewiesen, dass ihre Rechte durch Erwachsene wahrgenommen werden – und zwar nicht nur im Alltag, sondern auch bei politischen Entscheidungen. Als zukünftige Träger:innen der Demokratie sollten sie außerdem frühzeitig an demokratische Prozesse herangeführt werden.

Zahlreiche Organisationen und Verbände, darunter UNICEF und das Deutsche Kinderhilfswerk e. V.,   kritisieren jedoch: Derzeit berücksichtigt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als leitendes, über allen anderen Rechtsnormen stehendes Gesetz das Kindeswohl und die Kinderrechte nur unzureichend. 

Obwohl Kinder in Artikel 6 Erwähnung finden, werden sie lediglich als „Regelungsgegenstand“ der Norm behandelt und als Objekte dargestellt. Der Artikel besagt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Art. 6 GG, Absatz 2). Das Grundgesetz bringt weder den in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Vorrang des Kindeswohls noch den grundlegenden Gedanken dieses völkerrechtlichen Abkommens zum Ausdruck: dass Kinder als gleichberechtigte Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft, als eigenständige Persönlichkeiten mit eigener Würde und dem Anspruch auf Anerkennung ihrer Individualität anzuerkennen sind.

Die derzeitige Bundesregierung hat sich die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz zum Ziel gesetzt, nachdem das Vorhaben im Juni 2022 gescheitert war. Dabei möchte sie sich laut Koalitionsvertrag maßgeblich an den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention orientieren. Für die geplante Grundgesetzänderung ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat erforderlich.

Die gesetzliche Verankerung von Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland

Dass Kinderrechte nicht im Grundgesetz verankert sind, bedeutet natürlich nicht, dass junge Menschen in Deutschland kein Recht auf Beteiligung haben. Im Gegenteil: Entsprechende Gesetze und Bestimmungen existieren auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. 

Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in die Regelungen gegeben werden. Einen umfassenden Überblick bietet beispielhaft die Studie Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (PDF-Dokument) des Deutschen Kinderhilfswerks auf den Seiten 13 bis 24.

Bundesebene  

Das Recht auf Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist in Deutschland seit dem Jahr 1992 durch die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) als „einfaches Bundesrecht“ verbindlich festgelegt. Gemäß Artikel 12 Absatz 1 der Konvention haben Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren das Recht, an Entscheidungen beteiligt zu werden, die sie betreffen. Dieses Recht ist einklagbar, und alle staatlichen Instanzen, einschließlich Behörden, Gerichte und Gesetzgeber, sind verpflichtet, es zu gewährleisten. Die UN-Kinderrechtskonvention enthält auch weitere Bestimmungen, die die Beteiligungsrechte von Kindern regeln, wie beispielsweise die Artikel 13 (Meinungs- und Informationsfreiheit) und 17 (Zugang zu Medien und Jugendschutz).

In verschiedenen Rechtsbereichen wie dem Familienrecht, Kinder- und Jugendhilferecht, Schulrecht, Gesundheitsrecht, Migrationsrecht, Strafrecht und Datenschutz werden diese Vorgaben konkretisiert. Ein Beispiel hierfür ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, das im Sommer 2021 im SGB VIII (Achtes Buch Sozialgesetzbuch) reformiert wurde und umfassende Vorgaben zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Leistungsbereichen enthält. In der zentralen Leitnorm des Gesetzes heißt es: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. […]“ (§ 8 Abs. 1 SGB VIII).

Landesebene

Zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es teils große Unterschiede, was die Regelungen zur Kinder- und Jugendbeteiligung angeht. Auf Landesebene können Kinderrechte an zwei Stellen gesetzlich verankert sein: In den jeweiligen Verfassungen sowie in den Ausführungsgesetzen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz der Bundesländer. 

Fast alle Länder haben Kinderrechte in ihren Verfassungen festgeschrieben oder dort hervorgehoben, dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen. Beteiligungsrechte können daraus allerdings meist nicht direkt abgeleitet werden.

So heißt es beispielsweise in der Landesverfassung von Berlin in Art. 13 Abs. 1: „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz der Gemeinschaft vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Die staatliche Gemeinschaft achtet, schützt und fördert die Rechte des Kindes als eigenständige Persönlichkeit und trägt Sorge für kindgerechte Lebensbedingungen.“ Hier wird zwar der Schutz und die Unterstützung zur Persönlichkeitsentwicklung des Kindes betont, von Beteiligung oder der Berücksichtigung des Kindeswillens ist jedoch nicht die Rede.

In der Landesverfassung von Hessen hingegen sind Beteiligungsrechte ausdrücklich in Art. 4. Abs. 2 verankert: „[…] Der Wille des Kindes ist in allen Angelegenheiten, die es betreffen, entsprechend seinem Alter und seiner Reife im Einklang mit den geltenden Verfahrensvorschriften angemessen zu berücksichtigen. […]“.

In der Landesverfassung von Hamburg sind keine Kinderrechte festgesetzt. Dafür steht im Hamburgischen Gesetz zur Ausführung des Achten Buchs Sozialgesetzbuch in Bezug auf Kinder- und Jugendhilfe: „An den Beratungen der Jugendhilfeausschüsse sind junge Menschen sowie weitere Personen, die von den jeweiligen Beschlüssen betroffen werden, in geeigneter Weise zu beteiligen.“

Kommunale Ebene

Kommunen – also Städte, Gemeinden und Landkreise – haben als unmittelbares Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen eine besondere Bedeutung, wenn es um ihre Beteiligung geht. Denn Kommunen bilden die nächstliegenden politischen Verwaltungseinheiten, an deren Entscheidungen, Meinungsbildungs- und Planungsprozessen sich junge Menschen beteiligen können.

Die Gemeinde- bzw. Landkreisordnungen der Bundesländer bieten einen effektiven und sinnvollen Ansatz, um die Partizipation von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Raum auf kommunaler Ebene verbindlich zu regeln. Diese Verordnungen legen die Arbeitsweise und Struktur der Kommunen fest und enthalten Muss-, Soll- und Kann-Regelungen. 

In vier Bundesländern existiert derzeit eine sogenannte „Muss-Regelung“. Seit 2015 wird die Beteiligung von Jugendlichen in der Gemeindeordnung von Baden-Württemberg garantiert und ist im bundesweiten Vergleich besonders weitreichend: „Die Gemeinde soll Kinder und muss Jugendliche bei Planungen und Vorhaben, die ihre Interessen berühren, in angemessener Weise beteiligen. Dafür sind von der Gemeinde geeignete Beteiligungsverfahren zu entwickeln. Insbesondere kann die Gemeinde einen Jugendgemeinderat oder eine andere Jugendvertretung einrichten. Die Mitglieder der Jugendvertretung sind ehrenamtlich tätig.“ Auch in Schleswig-Holstein, Brandenburg und Hamburg ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen als Pflichtaufgabe der Kommunen festgelegt.

Eine sogenannte Kann-Regelung findet sich beispielsweise in der Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen: „Die Gemeinde kann zur Wahrnehmung der spezifischen Interessen von Senioren, von Jugendlichen, von Menschen mit Behinderung oder anderen gesellschaftlichen Gruppen besondere Vertretungen bilden oder Beauftragte bestellen. Das Nähere kann durch Satzung geregelt werden.“

Bayern, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen hingegen haben weder in ihren Gemeindeordnungen noch in ihren Landkreisordnungen Regelungen zur Kinder- und Jugendbeteiligung festgelegt.

Herausforderungen und Handlungsbedarf in der Kinder- und Jugendbeteiligung

Trotz der gesetzlichen Verankerung von Kinder- und Jugendbeteiligung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene gibt es noch Barrieren, die eine umfassende Beteiligung erschweren. Hierzu gehören unzureichende Informationen oder fehlende Transparenz über Entscheidungsprozesse. Auch werden die Anliegen von Kindern und Jugendlichen in ihrer Lebenswelt oft nicht ausreichend berücksichtigt. 

Politik wie Gesellschaft sind aufgefordert, eine tatsächliche und umfassende Teilhabe zu gewährleisten. Es bleibt eine fortlaufende Herausforderung, Kinder und Jugendliche bei politischen Entscheidungsprozessen angemessen zu beteiligen und sicherzustellen, dass ihre Perspektiven und Bedürfnisse gehört und berücksichtigt werden.
 

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