Die Deutsche Chorjugend im Interview: „Hierarchien abbauen und gemeinsam einen Klang kreieren“

07.09.2023

Junge Menschen singen in einem Chor

© Shutterstock/SpeedKingz

Das Projekt „ChorYOUgend“ bietet jungen Menschen bundesweit die Erfahrung, eine Chor-Gemeinschaft musikalisch und organisatorisch mitzugestalten. In diesem Interview berichten Sarah Potrafke und Stefanie Lehnert von der Deutschen Chorjugend von ihrem Projekt und teilen wertvolle Tipps, wie Beteiligungsprojekte im Kulturbereich gelingen. 

Was möchtet ihr mit eurem Projekt im Zukunftspaket erreichen?

Das Ziel des ChorYOUgend-Projekts ist es, Zugänge zu musisch-kultureller Bildung individuell relevant zu machen. Wir wollen in diesem Projekt insbesondere Jugendliche erreichen, die bisher nur wenige oder gar keine Berührungspunkte mit Chorgesang hatten. Wir wollen sie für das Singen in diversen Gruppen begeistern, in denen sie positive Gemeinschafts- und Selbstwirksamkeitserfahrungen machen. 

Hierzu kooperieren wir mit strukturell benachteiligten Schulen und schaffen gemeinsam mit jungen engagierten Chorleitenden ein AG-Angebot im Nachmittagsbereich. Bei der Chorarbeit selbst steht für uns im Vordergrund, dass Partizipation in all ihren Dimensionen gelebt wird, indem die Jugendlichen beispielsweise selbst über ihr Repertoire und ihre Probenregeln entscheiden, sie die Proben aktiv (mit)gestalten, einander anleiten im Erlernen neuer Stücke oder Fähigkeiten, Verantwortung für Warm-Ups oder die Organisation eines Konzertes übernehmen, sie Gruppenaushandlungsprozesse eigenständig und situativ lösen u.v.m. Wir sind überzeugt davon, dass die Selbstwirksamkeitserfahrungen der Jugendlichen in ihrer Chorgemeinschaft den Zusammenhalt in der Schule sowie ihr Wirken in der Zivilgesellschaft stärken.  

In der klassischen Chorarbeit nimmt die Chorleitung gegenüber den Chorsänger:innen oftmals noch einen dominanten Part ein. Dieses hierarchische Verhältnis wollen wir aufbrechen und ein Umdenken in der Chorszene hin zu mehr Partizipation anregen. Ziel des ChorYOUgend-Projekts ist es vor diesem Hintergrund also auch, Jugendbeteiligung im Chor zu fördern und langfristig in der Chorszene zu verankern. 

In regelmäßig stattfindenden Wissenstransfer-Formaten teilen die Chorleitenden ihre individuellen Ansätze, Herausforderungen und (Lösungs-)Strategien miteinander, tauschen sich über die Entwicklung der Chor-AGs aus und diskutieren angewandte Methoden partizipativer Chorarbeit. Das Projekt wird fortlaufend evaluiert und alle Methoden und Learnings für künftige Projekte medial leicht zugänglich aufbereitet.  

Warum eignet sich Singen im Chor besonders, um junge Menschen zu beteiligen? 

Durch das Singen im Chor haben junge Menschen einen ganz unmittelbaren, hürdenarmen Zugang zum eigenen kulturellen Selbstausdruck sowie zu einer Gemeinschaft, in der es einzig darum geht, miteinander Musik zu machen und eigene Ideen zu verwirklichen. Chöre sind Orte gelebter Demokratie und Vielfalt: Durch das Singen im Chor lernen die Singenden mit- und voneinander, aufeinander zu achten, einander genau zuzuhören, Entscheidungen miteinander auszuhandeln und aus vielen Stimmen einen gemeinsamen Klang zu kreieren. Sie bringen einander in Resonanz, halten Dissonanzen aus, nehmen sich als Teil eines Gesamtklangs wahr – das sind reale körperliche Erfahrungen, die für die Gruppe und individuell über das musikalische Ereignis hinaus gehen. Jede einzelne Stimme, jede einzelne Persönlichkeit ist in der Chorgemeinschaft entscheidend – nicht nur für das hörbare, musikalische Ereignis, sondern auch für ein lebendiges Miteinander als Gruppe. So soll die Chorgemeinschaft ein Raum sein, in dem die Jugendlichen – im Kontrast zum gewohnten Schulalltag – ihrer Individualität Ausdruck verleihen können und selbst bestimmen, wo die Reise hin geht und was sie dazu beitragen. 

Inwiefern werden Kinder und Jugendliche aus Risikolagen erreicht? 

Indem wir mit “Schulen mit besonderen Bedarfen“ kooperieren, die oftmals in strukturell benachteiligten Stadtvierteln angesiedelt sind, erreichen wir vor allem diejenigen Kinder und Jugendlichen, die dort wohnen und jene Schulen besuchen. Zudem streben wir Kooperationen mit Schulen an, in denen ein Haupt- oder Realschulabschluss (oder ein Äquivalent) erworben werden kann. Wir freuen uns, im Rahmen des ChorYOUgend-Projekts auch ein AG-Angebot an einer Förderschule umsetzen zu können. 

Wie ist die Geschlechterverteilung im Projekt und welche Rolle spielt dieser Aspekt?  

Aktuell können wir noch keine genaue Einschätzung zur Geschlechterverteilung im Projekt geben, da die meisten AGs erst Anfang September starten. Grundsätzlich sprechen wir im ChorYOUgend-Projekt alle jungen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht an. Insofern versuchen wir, ein Angebot zu schaffen, das geschlechtsunspezifisch ist. Das berücksichtigen wir selbstverständlich in der Ansprache der Jugendlichen, indem wir beispielsweise genderneutrale Sprache verwenden. Daneben ist es unser Ziel, dass die AG-Angebote vielfältig sind, sodass das ChorYOUgend-Projekt möglichst viele unterschiedliche Menschen anspricht und so die Vielfalt unserer Gesellschaft abbildet. Wir stellen in der Durchführung der Projekte sicher, dass sich die Jugendlichen in ihrem Safe Space bewegen. Sie selbst stellen die Regeln dafür auf, während die Chorleitenden dafür Sorge tragen, dass Grenzüberschreitungen und Diskriminierung in ihrem Chor keinen Raum haben und Verletzungen zugewandt aufgefangen und gemeinsam mit der Gruppe aufgearbeitet werden. 

Was macht ein gelungenes Beteiligungsprojekt im Kulturbereich aus? 

Entscheidend, um von einem gelungenen Beteiligungsprojekt zu sprechen, ist zunächst, dass sich alle gleichermaßen von dem Angebot angesprochen und mitgenommen fühlen – ganz unabhängig von der ethnischen oder sozialen Herkunft der Beteiligten, Hautfarbe, Erst-Sprachen, körperlichen und kognitiven Voraussetzungen, Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit. Wichtig ist uns in unserem Projekt, dass die Jugendlichen die Möglichkeit haben, sich aktiv am Projekt zu beteiligen. Wir machen hier also einen Unterschied zwischen Teilhabe und Teilnahme. In den ChorYOUgend-AGs soll die Hierarchie zwischen Chorleitung und Chorsänger:innen bewusst aufgebrochen werden. In ihren AGs sind es die jungen Menschen selbst, die bestimmen, wie sie Musik machen wollen und zum Ausdruck bringen, was sie bewegt – mit ihrer Stimme als Instrument. Gelebte Partizipation bedeutet in unserem Projekt, dass die Jugendlichen in den Vordergrund treten, die Chorleitenden ihre Machtposition abgeben und begleitend den Ideen und Prozessen zur Seite stehen, die die Jugendlichen miteinander aushandeln. Das setzt voraus, dass die Chorleitenden ihre Position, ihre Ziele und Möglichkeiten sowie die Grenzen des Projektes transparent machen sowie die Jugendlichen von Anfang an in die Konzeption, Organisation und Gestaltung der Chorproben sowie möglicher Events einbezogen werden. Das reicht von der Abstimmung bezüglich des Repertoires (dabei bestimmt die Gruppe selbst, auf welche Weise sie abstimmt) über die Übernahme von künstlerischen Anleitungseinheiten und die Benennung wechselnder Chor- oder Stimmgruppenspecher:innen, bis hin zur Planung von Probentagen, Ausflügen und Konzerten.  

Abgesehen von alledem ist für den Erfolg eines Beteiligungsprojekts auch der Aspekt der Nachhaltigkeit bedeutend. Unsere Idealvorstellung ist es, nicht nur Impulse zu setzen, die temporär begrenzt sind, sondern vielmehr langfristig etwas zu verändern oder zumindest in Gang zu setzen. Das wiederum liegt leider nur begrenzt in unserer Hand, da unsere Arbeit an Projektfördermittel gebunden ist, die zwar einerseits erst die Möglichkeit schaffen, konkrete Projekte dort, wo es am meisten gebraucht wird, anzustoßen, andererseits dann auslaufen, wenn das Projekt erst richtig in Fahrt gekommen ist. Kulturelle Bildung braucht kontinuierliche strukturelle Förderung, die uns davon wegbringt, Kinder und Jugendliche zu gut gemeinten Sozialprojekten zu machen, sondern uns die Mittel in die Hand gibt, uns als verlässliche Partner:innen an ihrer Seite zu behaupten. 

Was würdet ihr anderen Erwachsenen empfehlen, die Projekte mit Kindern und Jugendlichen umsetzen möchten? 

Für uns ist es essenziell, immer wieder die eigene Position gut zu durchleuchten, um zu schauen, an welchen Stellen die eigene Macht wichtig und richtig eingesetzt ist und wo wir Macht abgeben können.  

Dazu gilt es im ersten Schritt, sich der eigenen Vorstellungen und Erwartungen an ein Projekt bewusst zu werden und mit denen der Kinder und Jugendlichen abzugleichen, denn diese sind nicht zwangsläufig deckungsgleich. Damit einher geht oftmals, ein Projekt eher prozessorientiert und entdeckungsgeleitet anstatt ergebnisorientiert anzugehen. Das ermöglicht einen viel größeren Freiraum, auf die Jugendlichen einzugehen. Gleichzeitig erfordert ein kulturelles Bildungsprojekt eine detaillierte Konzeption und Vorbereitung – je klarer der Rahmen und die Mittel, desto einfacher fällt es, die Freiheiten innerhalb dieses Rahmens demokratisch, kreativ und ergebnisoffen auszugestalten. Es gilt also, die richtige Balance zu finden aus professioneller Planung und der Fähigkeit, situativ und spontan zu reagieren.  

Kinder und Jugendliche wirklich ernst zu nehmen, bedeutet für uns auch, einen sicheren Raum in offener, wertschätzender Atmosphäre zu schaffen, in welchem sie ihre Bedürfnisse und Wünsche in der Gruppe wahrnehmen, aussprechen, miteinander diskutieren und weiterdenken können. Partizipation passiert nicht von allein und das Miteinander-Vertrautmachen als Gruppe benötigt Zeit – deshalb investieren wir in unseren Projekten viel Zeit in das gemeinsame Finden als Gruppe und das Imaginieren unserer gemeinsamen Vision. 

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